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Woche 47 2021


Verbunden in der Stille, Woche 47, 2021                                                                                                                                                                                                                        
 
Zu besonderen Zeiten meines Lebens gestalte ich Collagen. Früher, im analogen Zeitalter, sichtete ich Illustrierte, schnitt Bilder aus und kombinierte diese mit Schlagzeilen aus Zeitungen. Ein Versuch, komplexe Zusammenhänge auszurücken. Collagen spiegeln meine momentane Stimmung. Und noch mehr: Da sich ihr Material aus daily news, aus Aktualitäten, schöpft, offenbart sich in ihnen eine kollektive Befindlichkeit. Ich erinnere mich an eine Collage aus der Zeit des Atomunfalls von Tschernobyl: Ein roter Hintergrund. Aus dem Nichts ragen romanische Pfeiler einer Kirche in den Himmel. Sie bilden das Fundament für einen einfachen Atelierraum, hohe Fenster lassen Licht herein, Zeichnungen liegen herum, eine Weinflasche, Skizzen, Ton und Material, ein halbgefüllter Aschenbecher, ein schmales Bett um zu ruhen, ein grosser Tisch, dem man die Kreativarbeit ansieht, Farbflecken … über das Bild verteilt, von oben nach unten drei Sätze:
Wir begegnen grossen Gefahren.
Die Fantasie tanzt.  
Aber es ist eine gute Zeit.
Heute, 35 Jahre später kommt mir die Collage wieder in den Sinn … Auch heute sind Gefährdungen sichtbar. Mir begegnet die Sehnsucht nach einem Fundament, das trägt. Nach einem Ort, wo die neue Welt geschützt und kreativ neu entstehen kann. Ein Raum mit Licht, Wein und Gemütlichkeit und wo Gefahren nicht alles bestimmen. Wo ich ruhig sein kann. Ein Ort, wo gute Zeit sein kann!
In den Gesprächen der letzten Wochen begegnete mir viel Sehnsucht nach guter Zeit. Sehnsucht danach, endlich wieder in der Normalität anzukommen. Sehnsucht nach sinnvoller Arbeit. Sehnsucht nach Hingabe an ein einfaches, «geistreiches» Leben. Hinter der Sehnsucht spüre ich Unruhe. Die Fantasie tanzt. Menschen fallen (schneller) aus ihrer Mitte. All das erlebe ich auch in mir. In den letzten Monaten bin ich häufig um 3 Uhr in der Früh aufgewacht. Die Störung des Schlafs kam nicht von aussen. Es lärmte im Inneren. Unerledigtes im Beruf, Konflikte, die unlösbar schienen. Und als jemand, der gerne weiss, wo es langgeht, war ich beschäftigt mit den Unplanbarkeiten, welche die Pandemie mit sich bringt. Dieser schlaflose Zustand war nicht lustig. Scheinbar kein Entrinnen. Scheinbar?
Mir hilfst es ungemein, wenn ich in den wachen Phasen der Nacht mich auf meine spirituelle Praxis zu besinnen. Ich verbinde mich mit meinem Atem. Ich bemühe mich bewusst aus und ein zu atmen. Nur aus und ein. Nach einer Weile kommt ein Mantra dazu. Ich spreche es innerlich. Wieder und wieder. Verbunden mit dem Rhythmus des Atems. In der Hingabe an Atem und Gebet rücken die gefährlichen Gedanken in den Hintergrund. Meistens verschwinden sie irgendwann ganz. Ich erfahre: Ich bin Atem. Ich bin Gebet. Die Unterbrechung wird zur Gnadenzeit. Ich gleite sanft in den Schlaf. Ja, so erfahre ich es… mitten in den Gefahren und Unwägbarkeiten. Was geschieht da mit mir?
 
„Gebet setzt eine gewisse Polarität voraus: zwischen Mensch und Gott, zwischen Endlichem und Unendlichen, dem Individuellen und Universalem, … Das Gebet versucht etwas, was auseinanderklafft, zu einen… Es schafft Einheit zwischen zwei Aspekten der Wirklichkeit… Es ist wie ein Koordinatensystem aus Natur und Übernatur. Nur wenn wir in der Mitte dieses Koordinatensystems stehen, können wir ganz Mensch sein. Wirkliches Gebet ist Hingabe. Der Mensch sollte beten, um sich dem Göttlichen in sich zu öffnen, damit es gleichsam in ihm betet.“ (Willigis Jäger, Wohin unsere Sehnsucht führt, Mystik im 21. Jahrhundert, Petersberg 2003, S. 261)
 
Die Hingabe an das kontemplative Gebet eint. Scheinbare Polaritäten werden verbunden. Ich erfahre:  Ich kann in die Mitte des Koordinatensystems treten. Mit Hölderlin: „In der Gefahr wächst das Rettende auch.“ Auch in der Gefahr kann ich mit dem Urgrund Lebens verbunden sein. So diene ich dem Leben. Wenn ich mich dem Leben, dem Atem, dem Gebet hingebe, dann wird es eine gute Zeit.  Das üben wir auf dem Kissen. Das können wir üben, wenn die Nacht schlaflos ist. Das können wir üben, gleich wo wir.  „Jeder Tag, ein guter Tag“, so sagt es ein Zen-Koan, oder: „Jede Nacht, eine gute Nacht.“ Danke für die Verbundenheit mit euch!
 
Bernhard Lenfers Grünenfelder, Kontemplationslehrer und Seelsorger
(Dieser Impuls ist gekürzt auch als Video abrufbar: https://youtu.be/3_ChBf1JVvE)
 

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