Die Kletterhalle verfängt nicht (KI-Bild)
Was wird aus den Kirchenräumen in den nächsten 20 Jahren? Diese Frage wurde in Zürich an einem Podiumsgespräch diskutiert. Der Abend mit grosser St.Galler Beteiligung führte wichtige Erkenntnisse zu Tage.
Das Wort «Kletterhalle» musste an diesem Mittwochabend in der katholischen Quartierkirche Bruder Klaus in Zürich als Unwort herhalten. Für die Podiumsteilnehmenden steht der Begriff stellvertretend für eine Kirchenumnutzung, die mit dem ursprünglichen Sinn des Gebäudes nichts mehr zu tun hat. Denn Ziel müsse sein, so ist man sich einig, die Würde einer Kirche zu bewahren und zunächst alle Optionen zu prüfen, die «Begegnung» in einem sozialen und karitativen Sinn förderten. Die Umnutzung etwa in ein Hallenbad – wofür es in Europa bereits Beispiele gibt – kommt für Ann-Katrin Gässlein, Theologien bei Katholisch St.Gallen, nur am Ende eines Prozesses in Frage, wenn der Sakralraum definitiv an einen anderen Eigentümer übergeht. Christoph Sigrist, ehemaliger Pfarrer des Zürcher Grossmünsters, spricht von «Transformation» der Kirchen. Er nennt sie das «Gold der Zeit» oder «Oasen der Stadtseele». Ans Podium ebenso erschienen sind der Architekt Alex Wohlwend, die Kantonsrätin Judith Stofer (ZH/AL) und der katholische Seelsorger Thomas Münch. Zum Abend, einer Buchvernissage, hatte die Katholische Kantonalkirche Zürich eingeladen. Sie ist Herausgeberin der Buchreihe «Zürcher Zeitzeichen», und der dritte Band «Kirchenraum, Begegnung neu denken» hat Ann-Katrin Gässlein publiziert und auch eigene Beiträge verfasst.
Es zieht alle rein
Die Politikerin Judith Stofer stellt sich am Abend als eine Person vor, die geringe Nähe zum christlichen Glauben hat. Und dennoch ist selbst sie beteiligt an Kirchenumnutzungen, wie sie in ihrer Input-Rede darlegt. Zum einen ist sie Mitglied des Zürcher Kantonsrats, der in der Bullinger-Kirche tagt, zum anderen gestaltete sie als Quartiervertreterin die Umnutzung der Wipkinger Kirche mit. Selber besuche sie als Touristin gerne Kirchen, am liebsten die kleinen, bescheidenen Sakralräume und keine Monumente «monarchischer Machtdemonstration».
«Die Kirche gehört dem Quartier»
Pfarrer Christoph Sigrist, der auch im Toggenburg und in der Stadt St.Gallen Spuren hinterlassen hatte, war gewohnt pointiert: «Die Kirche gehört dem Quartier.» Man müsse schauen, was die Leute vor Ort wollen. Und die Umgebung der Kirche begreifen, um zu einer guten Umnutzung zu gelangen. Ein Patentrezept gibt es offensichtlich nicht, jeder Kirchenort im urbanen Gebiet ist einzigartig. Ann-Katrin Gässlein erinnert auch daran, dass mehrere Nutzungen gleichzeitig möglich seien. Gegenüber eines geschützten Sakralraums könne gut auch eine Bibliothek untergebracht sein.
In St.Gallen bilden sich Schwerpunkte
Am Abend war auch eine Delegation aus St.Gallen angereist, unter anderen Barbara Walser, Pfarreibeauftragte im Riethüsli, St.Georgen und St.Otmar. Im Riethüsli wurde die katholische Kirche 2019 rückgebaut. Für die Standorte im Otmar und in St.Georgen kursieren verschiedene Ideen für zusätzliche Nutzungen. Immer deutlicher zeichnet sich der Schwerpunkt in St.Otmar ab, wo man international unterwegs ist und Gottesdienste etwa in Englisch, Vietnamesisch oder Tigrinya feiert.
Leseproben, weitere Infos und Kaufoption des Buches finden Sie hier.
Aus dem Archiv: Medienmitteilung, St. Gallen, 15. Januar 2024
«Züri-Bueb» ortet einen Kirchenboom
Kirchenbesuche nehmen in der Stadt Zürich massiv zu. Pfarrer Christoph Sigrist spricht von einer Vervielfachung der Besucherzahl im Grossmünster. Mit viel Selbstbewusstsein und Beispielen aus seiner Tätigkeit macht er in einem Referat in Rotmonten seinem evangelisch-reformierten und katholischem Publikum den interreligiösen Weg schmackhaft.
«War das jemandem zu extrem?» Pfarrer Christoph Sigrist schaut prüfend ins Publikum und wartet auf eine Reaktion. Niemand im vollen Pfarreisaal Rotmonten geht auf die Frage ein. Keine Widerreden also gegen den Inhalt seines Referats und kein Votum gegen den interreligiösen Weg. Christoph Sigrist, der Ende Monat als Pfarrer des Zürcher Grossmünsters zurücktritt, ist diesen Sonntag zu Besuch im St.Galler Hügelquartier Rotmonten. Hier wollen die Glaubensgemeinschaften der Evangelisch-reformierten und der Katholischen Kirche zusammenrücken. Mit dem Besuch der Koryphäe Christoph Sigrist starten sie den öffentlichen Prozess, der mutmasslich zur Nutzung eines gemeinsamen Kirchenraumes führt. Ähnlich wie im Riethüsli-Quartier, wo man sich vor vier Jahren auf einen gemeinsamen Ort geeinigt hat.
Drei Risiken eingehen
Schon zu Beginn seines Besuchs macht Christoph Sigrist klar, welchen Weg er als urbaner Pfarrer eingeschlagen hat. In seiner Ansprache am ökumenischen Gottesdienst begrüsst er Atheistinnen und Agnostiker ebenso wie Katholiken und Reformierte. Später an diesem Tag wird er in seinem Referat erklären, weshalb ihm als Pfarrer auch die Atheisten wichtig sind. Im Gottesdienst zuvor jedoch reist der 60-Jährige zurück in die Vergangenheit und setzt da ein, wo er der Liebe wegen als 26-Jähriger «Züri-Bueb» in die Ostschweiz kam. Im toggenburgischen Stein musste er gleich zu Beginn aufgrund einer grossen Beerdigung erste ökumenische Schritte wagen. Später entwickelte er als Pfarrer der St.Galler St.Laurenzen-Kirche die interreligiöse Arbeit weiter. Rückblickend sagt er: «Ich bin dankbar dafür, dass ich in Stein und in der Stadt St. Gallen ein anderer geworden bin.» Ein anderer zu werden, dies sei das dritte Risiko, das man auf dem interreligiösen Weg eingehe. Das erste sei Vertrauen, das zweite das Teilen.
Orte der Stille und des Gewissens
«Stadtzürcher Kirchen verzeichnen mehr Besuche als der Züri-Zoo», sagt Sigrist im Vortrag nach dem Gottesdienst und erntet ein Schmunzeln der circa 60 Anwesenden im Pfarreisaal der Katholischen Kirche Rotmonten. Tatsächlich hätten sich die Kirchenbesuche im Grossmünster in den vergangenen 20 Jahren mehr als versechsfacht. Gesellschaftliche Veränderungen führen laut Sigrist zu einer massiven Nutzungsverschiebung. Im heutigen urbanen Raum werden die Kirchen oft als Orte der Stille aufgesucht. Und halt nicht nur von Mitgliedern der Landeskirchen, sondern auch von anderen Menschen und Glaubensgemeinschaften: «Am Montag beispielsweise sind Atheisten im Grossmünster, am Freitag Muslimas». In seiner circa 20-jährigen Tätigkeit als Grossmünster-Pfarrer ist die interreligiöse Arbeit zu Sigrists Alltag geworden. So nennt er als Beispiel ein russisch-orthodoxes Paar, das ihn jüngst im Grossmünster aufsuchte. Er habe die aus der Ukraine geflüchtete Frau und den russischen ETH-Doktoranden spontan verheiratet, und die beiden seien nun regelmässige Besucher des Grossmünsters.
Dem Verlust der institutionellen Dimension der Kirche trauert Sigrist nicht nach: «die darf verschwinden». Absolut unverzichtbar für die Gesellschaft blieben aber die Kirchenräume. Sie böten Stille, Stallwärme und für Flüchtende Asyl. Sie dienten als Gedächtnis in einer Zeit des Internets, der Social Media und des Vergessens. Nicht zuletzt seien die Kirchen ein Ort des Gewissens. Ein Ort des Humanismus, wo die Menschenrechte verteidigt würden. Ein Ort, wo die christliche Wertegesellschaft seine Kraft schöpft.